3. Mai 2023

Gespräch mit Herrn Dr. Steven Koch, Erster Beigeordneter des Landkreises Potsdam-Mittelmark

Gespräch mit Herrn Dr. Steven Koch, Erster Beigeordneter des Landkreises Potsdam-Mittelmark (PM), auf Einladung des Runden Tisches Asyl und Migration am 03.05.2023, 17.00 bis 19.00 Uhr in den Räumen des Internationalen Bundes (IB) in Werder (Havel)

Begrüßung durch Hans Hansen und Rebecca Wolf

Vorstellungsrunde:

  • Rebecca Wolf (beim IB zuständig für Flüchtlingsberatung, Netzwerkarbeit und Fortbildung) stellt die Einrichtung und die Dienste für den Landkreis vor
  • vom Runden Tisch Asyl und Migration PM: Martin Kühn, Ruth Koschel, Max Steinacker, Hans Hansen
  • als Berichterstatter aus Betroffenenperspektive: Herr B. aus Eritrea
  • vom Landkreis: Laura-Sophie Schaaf als Integrationsbeauftragte sowie Dr. Steven Koch, seit 15.03.2023 Erster Beigeordneter

Dr. Koch hatte mit dem Thema Zuwanderung, Migration und Ausländerrecht schon in verschiedenen professionellen Positionen zu tun: im Polizeidienst, später dort als Ausbilder sowie bei der Stadt Gotha als Amtsleiter Öffentliche Sicherheit und Ordnung, später Bürgeramt. Dadurch hat sich eine Sensibilisierung für den Umgang mit Geflüchteten und Ausländer*innen entwickelt.

Gesprächsthemen

Problemaufriss: In der kommunalen Verwaltung als Ausländerbehörde (Abh) reicht das Handeln der Mitarbeitenden bislang kaum über standardisierte Verfahren hinaus. Die Ausübung von Ermessen erfolgt meistens restriktiv. Zielführende Beratung gehört noch überhaupt nicht zum Standard. Hier scheint ein Paradigmenwechsel für die Ausländerbehörde PM angezeigt.

Frage: Welche Schritte sind in PM bisher gegangen worden – im positiven wie kritischen Sinne? Aus Sicht der Betroffenen Menschen, ehrenamtlichen sowie professionellen Begleiter*innen und des Runden Tisches wird beschrieben:

  • die Abh ist eine Abschreckungsbehörde – erwartet wird eine Willkommensbehörde
  • Bleiberechtsparagraphen werden über Jahre nicht bearbeitet
  • die betroffenen Menschen werden rechtswidrig als Illegale behandelt
  • Coronabedingte Überforderungen und Überlastungsanzeigen

Dr. Koch hat bei seinen ersten Kontakten mit der Abh, der Leitung und dortigen Mitarbeiter*innen, eine kritische Situation wie dargestellt angetroffen. Er sieht die Einführung einer „Meta-Ebene“ als ersten Versuch, positive Veränderungen zu bewerkstelligen. Beratung und Coaching sowie Fortbildung soll mittelfristig sowohl für die Antragstellenden wie auch für die Mitarbeitenden (im Sinne eines kooperativen Arbeitsklimas) positiv wirken.

Problemanzeige: Der Arbeitsmarkt für Fachkräfte ist leergefegt und durch den „ungeliebten Arbeitsplatz Abh“ sind motivierte Umsetzungen innerhalb der LK-Verwaltung kaum realistisch. Zeitarbeitskräfte haben tendenziell noch weniger Kenntnisse, die Einarbeitung ist aufwendig, wird aber versucht. Weiterhin sind die hoheitlichen Aufgaben nur mit einem spezifischen Kompetenzprofil im Verwaltungs- bzw. juristischen Wissen zu besetzen.

Die Überlastungsanzeigen wurden ernst genommen und sind noch in der Bearbeitung, auch wenn die beabsichtigten Maßnahmen erst später wirken können

  • über Jahre sind zu wenig Fortbildungen durchgeführt worden, gleichzeitig sind die enormen Veränderungen der Bundes- und Landesgesetzlichkeiten herausfordernd
  • die Aufarbeitung des Fallrückstaus wird dauern und große Anstrengung erfordern

Der Runde Tisch bekräftigt, neben der erforderlichen Kritik an der Abh immer den konstruktiven Austausch zu pflegen und die Missstände im Kontext der angespannten Lage durch Ukrainekrieg und Pandemie einzuordnen.

Angemessene Führungskultur, Fortbildungen der Fachkräfte und das Updaten zur Rechtslage werden vorrangig angemahnt, damit Ermessensspielräume auch im Sinne der Arbeitserleichterung für die Fachkräfte genutzt werden. Die Verzögerungen der Umsetzungen bei neuer Rechtslage (Beispiel Verwaltungsgerichtsurteil zu eritreischen Staatsbürger*innen zur Aufhebung der Passpflicht) ist auch zu verantworten durch die Behördenleitung – der Eindruck entsteht, dass rechtliche Empfehlungen oder sogar Gesetzeslagen bzw. Anweisungen aus dem Innenministerium nicht oder ungenügend in die Mitarbeiterschaft vermittelt werden.

Dr. Koch verweist darauf, dass nach seinem Eindruck Frau Dornblut erhebliche Altlasten übernommen hat. In Kürze soll eine Taskforce mit vier bis fünf Mitarbeitenden eingesetzt werden, um eine Umstrukturierung und Optimierung mit den vorhandenen und neuen Kräften zu beginnen, z.B. von buchstabenbezogener hin zu fallbezogener Aufteilung – wobei auch das nicht unproblematisch ist.

Es wird angeregt, positive Beispiele aus anderen Abh anzuschauen, die ebenfalls ‚zusammengebrochen‘ sind (z.B. Darmstadt, Jena, Osnabrück). Dies sollte geschehen auf Basis eines handlungsleitenden Konzepts, wenn möglich auf der Grundlage einer Organisationsanalyse und/oder eines Monitorings. Dies soll auch auf der Grundlage einer weiter gefassten Umstrukturierung der gesamten Kreisverwaltung erfolgen.

Ein weiteres Beispiel: Potsdam hat sich vom Innenministerium eine Erlaubnis zur Erteilung von Einjahresduldungen geben lassen (für Menschen ohne Strafsachen) sowie die Online-Terminvergabe automatisiert, sodass hierdurch keine Mitarbeitenden-Zeit mehr belegt wird.

Die vorliegende Organisationsstrukturanalyse ist nur bedingt aussagekräftig – pandemiebedingt wurde der Prozess nicht weitergeführt. Im 1. Quartal 2024 werden Umstrukturierungen in der Abh begonnen.

Herr B. berichtet von eigenen schwierigen Erfahrungen und der Betroffenheit vieler Menschen, bei denen es sich um mehr als „nur Einzelfälle“ handelt. Es wird bekräftigt, das erste Untätigkeitsklagen laufen und der Image-Schaden für den Landkreis, aber auch finanzielle Einbußen der Wirtschaftsbetriebe/Arbeitgeber durch verweigerte oder nicht verlängerte Arbeitserlaubnisse negativ wirken.

Für die Seite der Sozialarbeitenden teilt Rebecca Wolf mit, dass auch Hauptamtliche die Abh mit schlechtem Gefühl oder gar eher schon mit Ängsten betreten, da sie von einzelnen Mitarbeitenden der Behörde ebenso rüde angesprochen und beschimpft werden wie die Antragstellenden. Auf die Nachfrage, ob und wie Beschwerde geführt wird (offiziell ist keine Dienstaufsichtsbeschwerde in den Personalakten dokumentiert) wird vorgetragen: Es traut sich niemand, weil man auch um noch größeren Nachteil für die Betroffenen fürchtet.

Dr. Koch schlägt vor, dass bis zur Einrichtung einer regulären Beschwerdestelle ein*e Ansprechpartner*in auf schriftliche Anzeigen/Beschwerden reagieren wird. NIEMAND muss sich beleidigen lassen! Das MUSS Konsequenzen haben! Aber dafür muss es bekannt sein. Eine Entscheidung dazu soll zeitnah getroffen werden.

Nachgefragt: Wie werden wir die Veränderungen oder sogar Verbesserung messen bzw. bemerken können? Dazu wird ausgeführt, dass es verschiedene Tools – quantitativ und/oder qualitativ – gibt, die aber noch mit der Taskforce entwickelt und strategisch umgesetzt werden müssen.

Eine weitere Frage bezieht sich auf die Bearbeitungszeiten für die Verwaltungsvorgänge – was ist akzeptabel? Laut Dr. Koch gibt es KEINE vorgegebenen Fristen – das Gesetz sagt „schnellstmöglich“ (wenn aber z. B. ein hoher Krankenstand vorliegt, läuft auch jede Untätigkeitsklage ins Leere).

Nachgefragt: Kann das im Monitoring einsehbar gemacht werden? Dr. Koch: Das ist einsehbar, aber manche Bearbeitungen sind auch nach 500 Tagen ordnungsgemäß; eigentlich ist die Behördenleitung zuständig, Frau Dornblut scheint jedoch aktuell an Kapazitätsgrenzen gestoßen zu sein. In der Regel ist dann die nächste Hierarchieebene zuständig.

Nachgefragt: welche Bearbeitungszeit ist hinnehmbar bei § 25a+b Aufenthaltsgesetz? Dr. Koch: Einerseits sind drei Monate eine Richtmarke; aber manche Fälle sind schon nach drei Wochen dringlich – dann bitte nicht warten. Andere Fälle vertragen eine längere Bearbeitung ohne (größeren) Schaden für die Antragstellenden. Darüber können wir uns auf kurzem Weg verständigen.

Nachgefragt: Untätigkeitsklagen laufen ins Leere bei personeller Überlastung, aber nicht bei Falschaussagen oder gravierenden Fehlentscheidungen, ist das richtig? Dr. Koch: Das stimmt, allerdings ist eine vorgeschaltete Beschwerdestelle effektiver, da der Rechtsweg langwierig ist. Diese soll möglichst aus der Taskforce entwickelt werden, erste Gespräche dazu gibt es in der kommenden Woche.

Nachgefragt: aus Potsdam war zu hören, dass Fachkräfte aus dem Ministerium abgestellt wurden, um einen Rückstau abzuarbeiten – ist das für PM denkbar? Dr. Koch: Es steht zu befürchten, dass JETZT niemand mehr abgestellt werden kann

Nachgefragt: Das Gutachten aus Potsdam (Frau Prof. Hundt) zu den Rechtslagen und -umsetzungen erscheint aussagekräftig: es wirkt so, dass die Resonanz der Behördenleitung schwach ausgeprägt ist; warum wird keine Fortbildung dazu durchgeführt? Sollte hierzu wie zu anderen Missständen politischer Druck erzeugt werden?

Im Prinzip gilt es heute als politischer Konsens, dass Behörden serviceorientiert zu arbeiten haben (das war vor 20 Jahren noch anders). In der Breite ist aus dem Kreistag über diesen Konsens hinaus aber kaum eigene Initiative bezüglich der Abh zu erwarten.

Unangemessenes Verhalten der MA soll ab sofort unbedingt gemeldet werden! Sobald die Taskforce zusammengestellt ist, wird auch eine Person benannt, an die Beschwerden über verzögerte Bearbeitungszeiten gerichtet werden kann. Bis dahin sollen Beschwerden an Dr. Koch gesendet werden.

Vorschlag: Die Fachberatungsdienste bieten an, in der Abh Anträge auszufüllen (so wie in Havelland, wo die Abh den IB um Hilfe gebeten hat). Eine Anfrage aus PM – so wurde berichtet – sei von den Trägern nicht angenommen worden. Lt. Herrn Dr. Koch habe es da wohl ein Missverständnis gegeben.

Zum Abschluss bittet Dr. Koch darum, weiter im Gespräch zu bleiben, der Austausch „mit der Basis“ sei ihm wichtig. Von allen Anwesenden wird ein weiterer konstruktiver Austausch zur Abh und den Fragen zur Geflüchtetenhilfe im Landkreis befürwortet.